canti sul ponte di vita e d‘amore

L.Nono: Polifonica; Canti, Canciones, caminar sonando            wergo 6631-2

Text: Peter Hirsch

Der Begriff des „Gesangs“ - ob als canto, canciones oder Lied - zieht sich durch Nonos fast gesamtes Werk. Insbesondere in den 50er und frühen 60er Jahren bedeutete das Insistieren auf Gesang für Nono so etwas wie ein Gegengewicht zur damals vorherrschenden seriellen Ästhetik. Natürlich fühlte er sich der Wiener Schule, aus der sich die serielle Technik entwickelte, ebenso verpflichtet wie dei meisten seiner Zeitgenossen: Von Anfang an aber versuchte er, die Konzentration aufs Wesentliche mit dem Anspruch des Kantablen zu verbinden. So ist wie schon bei Webern oft nur ein Ton bereits Melodie, bilden zwei Töne schon Kontrapunkt - auch von Widersprüchlichkeiten. Oder: die ganze Welt des Flamenco (in den „Canciones a Guiomar“) schnurrt zusammen in einem Akkord der Gitarre, sein Rhythmus in nur einem Schlag mit der Hand aufs Instrument. Einzellaute. In „Canti per 13“, dem wohl punktuellsten Stück Nonos, ist jeder einzelne Ton bis in die Dynamik und Artikulation hinein streng seriell organisiert. Und gerade dieses Stück für 13 Instrumente, die selten mehr als einen Ton hintereinander zu spielen haben, behauptet „Gesänge“ zu sein. Nono spricht von einem gesanglichen ersten Teil und einem tänzerischen zweiten. Wo abgesetzte Einzeltöne „Gesang“ sein müssen, wo (bestenfalls) angehaltene Zusammenklänge von zwei, drei oder vier Tönen als - wie auf den Kopf gestellte - Melodien zu hören sind; wo „Tanzrhythmus nur noch in den hochkomplizierten ausdifferenzierten, unterschiedlichen Frequenzen von Tonwiederholungen feststellbar ist: Da werden diese „Gesänge für 13“ zu „Liedern und Tänzen“ auf den Trümmern einer Vergangenheit, die ganz bewußt als endgültig verlorene beschworen wird.
  Polyphonie von suchenden, wandernden Einzeltönen. Zu Beginn von „Polifonica-Monodia Ritmica“ ist jeder Ton „Echoton“, also Nachhall von etwas, das nicht mehr ist. Das Stück beginnt gleichsam mit seinem Ende. Es gibt kein >Anfangen<, es gibt nur ein Zögern; vorsichtiges Herantasten, kaum hörbares Auftauchen aus dem Nichts; vereinzelte, mit Federn gspielte Becken. Überhaupt diese immer wieder verfremdete Behandlung des Schlagzeugs: Tom-toms, die mit Daumen und Fingern mehr gestrichen als geschlagen werden; dafür ein Beckenwirbel, der ins dreifache Pianissimo zurückgehen soll, mit Holz gespielt. Da das letztlich unmöglich ist, bleibt eine permanente Störung des nachfolgenden canto: Die „Monodia“ wird zu einem Gesang wie unter Waffenklirren.
  „Monodia“: Man könnte sie Nonos ersten „canto sospeso“ nennen, in der Bedeutung von „schwebend“. Schwebender Gesang, vagierend zwischen Himmel und Erde, nirgends verankert, ruhelos; freier Gesang einerseits, dem andererseits auch etwas von Vertriebensein anhängt.  Unbehauster Gesang, in dem die Schatten der Vergangenheit nur noch vage die Umrisse von dem erkennen lassen, das einst in ihr aufbewahrt war. Der Rest ist Differenz. Die Differenz: der Unterbruch, das Zeitstocken, die Zäsur, die die Hinterlassenschaft dieses Jahrhunderts ist. Die folgerichtige Reaktion vieler Künstler darauf war die, an ein bruchloses Weiterführen von Tradition nicht mehr zu glauben. Daher dieses oft tastende Beginnen, das Immer-wieder-Stocken, diese Musik am Rande des Verstummens.
  So sehr die Ebene des leisen, „verlöschenden“, „ersterbenden“ Klangs an die Vorbilder Weberns anknüpft, so sehr sind die Pausen Nonos etwas Neues und ganz Eigenes; und zwar von Anfang an. Denn auch wenn sich natürlich seine Schreibweise gerade in Bezug auf die Stille im Laufe der Jahre bis hin zum Spätwerk „Prometeo“ radikalisiert hat, so gibt es doch schon in den frühen „Canciones a Guiomar“ jenes Innehalten, das einem Erschrecken gleicht, das Stocken der Zeit, die Pausen mit angehaltenem Atem. Dies beweist nicht nur, daß es die sogenannte Wende zu einer vermeintlichen Innerlichkeit bei Nono nie gegeben hat; es zeigt auch, wie stark sich dieses Schreiben aus dem Bewußtsein von Unterbruch herleitet, und wie tief in ihm das Mißtrauen gegen überkommene und scheinbar vertraute Ausdrucksformen steckt. (Nicht zufällig heißt „canto sospeso“ in seiner zweitem Bedeutung „unterbrochener“ oder auch „ungültiger Gesang“.) Nie haben diese Pausen etwas Beruhigendes oder gar Esoterisch-Meditatives an sich; im Gegenteil: Mehr und mehr werden sie zu regelrechten schwarzen Löchern, Abgründen der Angst; peinigende Pausen, die keine Spannungsverbindung von einem (Klang-)Punkt zum nächsten mehr zulassen. Radikale Unterbrechungen, die zum Urgrund einer neuen Klangsuche werden, die das Geräuschhafte an der Schwelle zwischen Stille und Klang bewußt einbezieht.
  Trotz fast 30 Jahren Zeitunterschied ist davon die Wandererwelt des „Hay que caminar sonando“ ebenso bestimmt wie die „Canciones a Guiomar“ mit ihren langen, im Nichts endenen Nachklängen. Auch der letzte Teil des „caminar“ endet mit zwölf Sekunden Stille „con arco fermo“ - mit festgehaltenem Bogen - am Ende eines nicht enden wollenden Verklingens des letzten porösen Holzklanges -  „crini/legno“ - mit Holz und Haaren gestrichen. Bröckelnder Klang am Rande der Unhörbarkeit, gefährdete Stille. Das Schweigen der Sirenen Kafkas, vor dem sich Odysseus vergebens die Ohren verstopft.
  Gerade an der Nahtstelle zwischen alter und neuer Klang-Welt wird auf dieser CD deutlich, wie nah verwandt sie miteinander sind: der Übergang vom sirenenhaften Ausklang der „Canciones“ zu den eisig-hohen Streicherflächen des „Hay que caminar sonando“ erscheint bruchlos, macht beide Stücke als Ausdruck desselben, suchenden Geistes hörbar.
  Nachsatz. Hörende oder gehörte Utopie: In einer dunklen Nacht Musik des weißen Blitzstrahls („Come una centella blanca en mi noche obscura“, der Kersatz aus A.Machados „Canciones a Guiomar“). Gleißend kristalliner Klang einer Endzeit, einer Zeit >danach<. Auf die Spitz getriebenes Metall: hohe Becken, Crotales.
Musik vom Beginn einer Wirklichkeit jenseits unserer Wirklichkeit. In einer anderen Machado-Vertonung steht: „Ha venida la primavera“. Frühlingserwachen.

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