B.A.Zimmermann oder: Das imaginäre Theater

Colloque B.A.Zimmermann                                                Université de Strasbourg
                                                                                                         9. Oktober 2010
                                                                                                         www.canalc2.tv

Text: Peter Hirsch

Veröffentlicht: www.contrechamps.ch/editions-zimmermann

Zwei Werke Zimmermanns tragen den Untertitel „Musik zu einem imaginären Ballett“: „Kontraste“ und „Perspektiven“. Doch auch andere Titel oder Untertitel, wie jener zum „Concerto pour violoncelle et orchestre“: ,en forme de pas de trois‘ weisen auf die Anwesenheit weiterer verborgener, imaginärer Sphären hin, in diesem Falle wiederum eines Balletts. In der Einführung zum „Concerto“ heißt es: „Dem Titel zufolge handelt es sich also um ein Instrumentalkonzert als auch gleichzeitig - um eine Ballettmusik. Die Verbindung dieser beiden, scheinbar un-verbindlichen Gattungen will jedoch auf ein Drittes heraus, in dem beides gleichwohl enthalten sein soll: die absolute musikalische Form.“ Und bezüglich der „Kontraste“ spricht er von „einer imaginären Einheit aus absoluter Musik, absolutem Tanz und absoluter Farbe“. Beides gehört zusammen: Jenes „Dritte“, das Zimmermann auch mit „absoluter musikalischer Form“ zu beschreiben versucht, ist eben diese „imaginäre Einheit“ des Verschiedenen: Verschiedenheit der künstlerischen Medien, der Stile, der Zeiten. In einem Aufsatz beschreibt er das Ziel seiner Arbeit u.a. als „die Utopie der Verbindung bisher für getrennt gehaltener Zeitabläufe“, in der er „eine gewisse geistige Entsprechung mit der musikalischen Wirklichkeit unserer Zeit“ erblickt. Diese „musikalische Wirklichkeit“: was ist sie? Eine jener „imaginären Einheiten“ des Verschiedenen? Wie verhalten sich „Wirklichkeit“ und „musikalisch“ in seinem Denken zueinander? „Wirklichkeit“ war für Zimmermann nie etwas anderes als ,Welt‘ und ihr immer wieder katastrophischer, geschichtlicher Verlauf. Beim Komponieren gehe es darum, schreibt er, „das Unfaßbare faßbar zu machen, das Chaotische zu ordnen, das Grenzenlose zu begrenzen: ein Anliegen des menschlichen Geistes seit jeher“. Wie kaum ein Komponist der Nachkriegszeit hat er sich dieser Wirklichkeit, wie er sie verstand - heterogen, chaotisch, auch apokalyptisch - gestellt und es vermocht, sie kompositorisch zu bändigen. Wir befinden uns also in einem ,imaginären‘ (oder gar: utopischen) Theater, auf dessen virtueller Bühne in diesem Sinne: „musikalische Wirklichkeit“ verhandelt wird. Er schreibt: „Die Musikgeschichte führt den Komponisten zu seiner Zeit an seinen Ort, zu seiner Aufgabe. Diese lautet: das Notwendige tun. (...) Das heißt: von den abertausend Möglichkeiten (...) jene einzige Lösung zu finden, welche den kompositorischen Einfall mit der musikalischen Wirklichkeit zur Deckung bringt.“ „Die Musik ist dabei gewissermaßen der geometrische Ort, auf den sich alles bezieht, und aus dem heraus sich alles entwickelt,“ heißt es zu den „Perspektiven“ bezüglich der „Verbindung verschiedenster Bewegungselemente“. Man könnte auch von der (utopischen) Verbindung verschiedenster Gestaltungsprinzipien, künstlerischer Ausdrucksformen, Gedankengänge sprechen. Die Musik als der utopische Ort schlechthin, als imaginärer Fluchtpunkt unterschiedlichster Versuche, die Welt künstlerisch zu bewältigen.

So ist etwa die Kantate „Omnia tempus habent“ imaginäres Monodram, Ensemblestück mit Gesang und philosophische Abhandlung über die Zeit in einem. Oder „Antiphonen“: Die berühmten Texte darin, von den Musikern ausgesuchter Instrumente in acht verschiedenen Sprachen zu sprechen, erfüllen „Aufgaben phonetischer und semantischer Art“. An einer Stelle heißt es in der Partitur: „größtmögliche Wortverständlichkeit: mit dem Bestreben, sich verständlich zu machen, ohne sich dabei gegenseitig zu übertönen.“ Die Texte gehören also weder ,theatralisiert‘, noch dürfen sie untergehen, nur phonetisches Material sein. Sie sind auch dies, aber sie tragen das Gewicht ihrer Bedeutung ebenso. Die „Antiphonen“ sind also utopischer Wechselgesang von Instrumentalkonzert und vielsprachigem Symposion in einem. Der Ort all dieser mysteriösen Symbiosen ist die Musik selbst, die auf einer geheimen Bühne im Hinterkopf diese magischen Zusammenkünfte inszeniert. Und zwar dann, wenn sie richtig gehört wird. Zimmermanns Sehnsucht nach „Eigenständigkeit der künstlerischen Medien, (...) und zwar dergestalt, daß Interpretation des einen durch das andere ausgeschlossen sein sollte“ (so in der Einführung zu „Kontraste“), also nach Nicht-Verdopplung, Nicht-Illustration bei gleichzeitiger Suche nach Osmose, nach Vereinigung des Unvereinbaren bündelt sich im Begriff: Kontrapunkte. Das Wesen des ,absoluten Kontrapunkts‘, des Vorrangs der Horizontalen in der Musik ist jedoch nicht, daß die entstehenden Vertikalen, die Zusammenklänge willkürlich wären, sondern besteht eben darin, daß sie vom Komponisten (vorweg-)gehört sind. Erst wenn es uns gelingt, nicht nur Zimmermanns vielschichtige, horizontale Entwicklungen zu verdeutlichen, sondern auch, z.B., seine Akkorde als oftmals in die Vertikale geschichtete melodische Verläufe hörbar zu machen, werden wir der Musik gerecht, geben wir ihr die „Bedeutung, die jenen Worten innewohnt, die ihn (den Komponisten) zu dem Unternehmen der Komposition veranlassen“, so Zimmermann über „Omnia tempus habent“.

Die Konzeption eines gleichsam umfassenden Kontrapunkts verschiedenster künstlerischer Medien, wie er sie schließlich in den „Soldaten“ ausformuliert, entsprach seinem Wesen, seinem Denken. Und es entspricht diesem Denken, daß er versuchte, als Komponist diese Sicht der Dinge, seine Sicht auf die Welt musikalisch darzustellen. Diese „Vielheit in der Einheit“, wie sie sich in seinen Collagen, den Schichtungen verschiedener Zeitebenen und schließlich in seinen Zitaten äußert, erinnert an Mahlers Ausspruch vom „wahren Kontrapunkt“ - angesichts des scheinbaren Durcheinanders verschiedenster Musiken zur gleichen Zeit auf dem Jahrmarkt. Es ist oft gesagt worden, auch von ihm selber, daß es - bis auf den Spezialfall „Ubu“ - eigentlich nur sehr wenige Zitate waren, die er verwandte, und die die Gemüter erregten. Jazz z.B. galt damals vielen als ,altbacken‘; aber während andere im Neuen das Fremde begründeten, suchte er das Fremde auch im Alten zu entdecken. Zur Rechtfertigung des Zitats, und um es dem Vorwurf des Zufalls und der Beliebigkeit zu entziehen, sagte er von ihm, das es „dem Gedanken der effektiven Gleichzeitigkeit allen musikalischen Geschehens“ entspringe. „Das Zitat hat also in kompositionstechnischer Hinsicht eine strukturelle Bedeutung. Es ist dem Zufall entzogen und damit auch der außermusikalischen Deutung.“ Das schließt innermusikalische Notwendigkeit und BE-Deutung ausdrücklich nicht aus. Ich erinnere mich gut, als ich zum ersten Mal „Photoptosis“ hörte, beim Eintritt des Beginns des Finales aus Beethovens Neunter, an mein Gefühl von totalem Überraschtsein, auch: von Empörung - und zugleich von innerer Notwendigkeit! Vielleicht ist es diese Antinomie von Unerwartetheit und Notwendigkeit, die Zimmermanns wenigen und z.T. wiederkehrenden Zitaten solch bleibende Aktualität verleiht. Wobei die innere Notwendigkeit sich natürlich aus der Beladenheit der Zitate herleitet. Beladen mit Tradition. Das gilt für den Jazz ebenso wie etwa für den magischen Bluesrythmus und seine Metamorphosen zu Marsch- oder Prozessionsschritten am Ende der „Soldaten“ oder in „Stille und Umkehr“; ebenso wie für den Choral, dessen Funktion, Stellung und Bedeutung bei Zimmermann kaum eine andere ist als etwa bei Bruckner. Dies weist auf etwas hin, das gerade im Theater, gerade in den „Soldaten“ gleichsam nicht mehr theatralisierbar ist: etwas das auf einer Bühne spielt, die sich jenseits selbst eines mit so vielfältigen Mitteln operierenden Theaters befindet, wie es die „Soldaten“ intendieren. Daß sich dieses Fenster zum Unbekannten, Imaginären auch und gerade in Zusammenhang mit der Zimmermannschen Vision eines umfassenden Theaters eröffnet, ist kein Widerspruch. Die Erfahrung mit der Oper, etwa in der Frankfurter Aufführung Anfang der 80er Jahre, zeigt, welch immenses ,Traum- und Projektionspotential‘ in der Partitur steckt. Es sind die Klänge, die im Zuschauer Projektionen generieren, die über das hinausgehen, was wir auf der Bühne sehen.

Zimmermann hat häufiger auf einen Gedanken Paul Klees verwiesen, der sich mit dem Phänomen „Projektion“ beschäftigt: „Es gibt auch Projektionen, die man nicht erklären kann, dadurch daß innerhalb des Bildnerischen die Fähigkeit auftritt, innere Bilder so zu projizieren, daß sie fast oder ganz Wirklichkeit sind.“ Einmal fügt er die eigene Frage daran: „Haben wir nicht Grund anzunehmen, daß ebenso innerhalb des Musikalischen die Fähigkeit, die unerklärbare, auftritt, innere musikalische Bilder so zu projizieren, daß sie Wirklichkeit sind, neue Wirklichkeit eines organischen, musikalischen Ganzen?“

Ob Zimmermann wohl Klees Bild „Angelus Novus“ gekannt hat? Und kannte er Walter Benjamins Text darüber? Wohl kaum. Wie es scheint, kannte er dessen Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“, in dem so viele Gedanken zu seinem, Zimmermanns Begriff der Zeit stehen, nicht. Benjamins „Engel der Geschichte“, nicht zufällig 1939/40 kurz vor Flucht und Selbstmord geschrieben, liest sich wie eine Vorahnung von Zimmermanns Wahrnehmung von Welt und Zeit:

„Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann.

Der Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Bekanntlich teilte Zimmermann, bei aller Differenz, das Mißtrauen dem gegenüber, „was wir Fortschritt nennen“. Und: natürlich kannte er ihn gut, diesen Sturm.

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