Der Rote Mantel

L.Nono: Der Rote Mantel; Compositione per orchestra n.1      WERGO 6667 2

Text: Peter Hirsch

„Musik-Leben (oder Leben-Musik: das ist dasselbe)“. So heißt es in einem Brief des jungen Nono 1953 an K.A.Hartmann. Im selben Jahr schreibt er an Scherchen über „die sehr schöne Realität unserer starken Einheit im Leben und in der Musik.“ Diese Sehnsucht nach Einheit von Kunst und Leben, die man nach dem Krieg noch haben konnte, vielleicht mußte, fand in Federico Garcìa Lorca und seiner „Barracca“ eine ideale Entsprechung. Es war diese einfache Lastwagen-Bühne, mit der Lorca einige Zeit über Land fuhr; für sie schrieb und inszenierte er im Auftrag der jungen spanischen Republik. Auch „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wurde 1933 durch das fahrende Studententheater uraufgeführt. 1954 machte Tatjana Gsovsky für die Deutsche Oper Berlin daraus ein Ballett, dessen Vertonung sie Nono antrug. Der hatte sich bereits zuvor in seinen „Epitaphen“ leidenschaftlich mit Lorca beschäftigt. („Der Gesang des freien Spanien ist um uns, trotz des Versuches, ihn durch den Mord an Federico Garcìa Lorca auszulöschen. Dieser wunderbare Andalusier ... ist für uns Junge ein Meister, ein Freund, ein Bruder, der uns den wahren Weg weist, auf dem wir mit unserer Musik Mensch unter Menschen sein können. Hier liegt der Anlaß zu meinem ‚Epitaph auf Federico Garcìa Lorca‘“) Anders als dort treten jedoch im Roten Mantel die offenkundigen, ‚hörbaren‘ politischen Intentionen vollständig zurück; es gibt keine chorischen, rhythmisierten Parolen o.ä. Nonos Ballett zum „erotischen Aleluya“ ist vielmehr ein Kammerspiel der bizarren Art auf der Suche nach den Verdichtungen der ungreifbaren, poetischen Bilder Lorcas. Gleichwohl  ist es natürlich auch eine Hommage an den von Falangisten ermordeten Garcìa Lorca.
Eine Parabel auf die Unvereinbarkeit.
Wer täuscht wen?
Mantel und Degen unter maurischen Bögen. Andalusisches Kolorit gedrängt in den Klang der Kastagnetten und anderer Hölzer. Hohes Metall bleibt Fanal: für Verkündigung wie für Tod. Und wenn alles besiegelt ist, fallen schwarze Papiervögel vom (Bühnen-)Himmel.
Immer wieder: „Gelbe Inseln“ gesungener Poesie.
Zwei Flöten führen eine getanzte Liebeserklärung auf.
„Amor que està herido
Herido de amor huido.“
Verwundete und entflohene Liebe,
geflüchtet - in die Maske des anderen. Duell mit sich selber in rotem Umhang. Triumph der Imagination.
Manchmal ist dieses Stück, das so gern ein Ballett gewesen wäre, seine Verursachung aber gerade den poetischen Metaphern Lorcas verdankt, geradezu anrührend um einen ‚tänzerischen‘ Gestus bemüht - um letztlich doch immer wieder auf Gesang zurückzugreifen. Nicht zuletzt dieser Zwiespalt macht die eigentümliche Sonderstellung des Werkes aus.

Inhalt „Roter Mantel“ - nach den Angaben der Partitur.
1. Akt. In Perlimplins Haus. Perlimplin erscheint. Mascolfa hilft ihm beim Ankleiden. Auf dem Balkon gegenüber erscheint Belisa. Mascolfa zieht Perlimplin zum Fenster, von wo aus er Belisa sehen kann - verzückt lauscht er dem Gesang. Lied der Belisa. Mascolfa tanzt dem Perlimplin eine Liebeswerbung „vor“ - Perlimplin wiederholt Belisa gegenüber Mascolfas Pantomime. Belisa ruft ihre Mutter, es entwickelt sich ein Tanz zu viert. Die Mutter preist zuerst Don Perlimplin, dann Belisa - die Verlobung ist beschlossen. Es dunkelt, ein Schwarm schwarzer Papiervögel hängt über der Straße. Solo Perlimplin - ein wirrer Liebestanz, halb in Angst halb in Glück.
2.Akt. Hochzeitsgemach - Perlimplin zaghaft, scheu, ohne jede Annäherung; Belisa in sinnlicher Bereitschaft, enttäuscht, fast verärgert. „Nacht“ - Die Liebhaber: 1. ein Zentaurus; 2. ein Jüngling auf einer weißen Leiter, die aus dem Boden heraufsteigt; 3. ein Akrobat; 4. Belisa wird von einem Liebhaber symbolisch erstochen. Perlimplin erwacht - ist gehörnt. Er legt den Brautschleier Belisas um sein Geweih. Lied des Perlimplin.
3.Akt. Im Garten Perlimplins. Er schreibt einen Brief (eine getanzte Liebeserklärung), gibt ihn Mascolfa. Er legt einen großen roten Mantel an und geht am Fenster Belisas vorbei. Sie erkennt den Kavalier nicht - sie ist entflammt. Serenade. Ein Mann in rotem Mantel - Belisa geht ihm nach; Perlimplin ohne Mantel versperrt ihr den Weg; Perlimplin mit Mantel - ein Verfolgungstanz. Belisa klagt ihrem Mann ihr Leid, ihre Liebe zum ungreifbaren Unbekannten. Perlimplin zieht den Dolch und rast heraus, wie um den Unbekannten zu töten - der Unbekannte taumelt in seinem roten Mantel wie ein angeschossener riesiger Vogel im Garten umher. Perlimplin fällt tot in Belisas Arme. Sie ergründet nicht das Geheimnis des Geschehenen - legt sich langsam den blutigen riesigen Mantel um die Schultern.
Liebesgesang der Belisa.


Compositione per Orchestra (Nr.1)
Die Compositione gehört zu den wenigen Werken Nonos, die in keinem seiner eigenen Texte oder Gespräche vorkommen. Auch der Titel besagt eigentlich nur, daß er nichts aussagen will. Was also ist der Hintergrund, der kompositorische Anlaß dieser „Komposition“? Im Jahr der Entstehung, 1951, arbeitete Nono an einem Werk für zwei Sprecher und Orchester über den Prager kommunistischen Schriftsteller und Journalisten Julius Fucik; ein Projekt, das er jedoch nicht zu Ende führte, wohl weil er einsah, daß ein solches Stück im Deutschland der 50er Jahre aus politischen Gründen unaufführbar gewesen wäre. Ein Vergleich der erhaltenen Partiturteile zu Fucik mit der Compositione zeigt jedoch, daß es außer der identischen Orchesterbesetzung keinerlei Ähnlichkeiten zwischen beiden Werken gibt. Im Gegenteil: Wie um die Verschiedenartigkeit des Materials zu unterstreichen, beschränkt Nono den Tonvorrat für den größten Teil der Compositione auf neun Töne! (Erst im abschließenden reinen Schlagzeugteil erscheinen - und dann ausschließlich - die anderen drei.) Gleichwohl werden diese neun Töne streng nach den Regeln der Reihe gehandhabt! Darüberhinaus, als gelte es auch diese Spur zu verwischen, ist diese Einschränkung beim einfachen Hören nirgends wahrnehmbar. Eine ‚Dodekaphonie mit neun Tönen‘ also: was ist das, außer ein Widerspruch in sich? Vielleicht ist die bewußte und vorm Hörer sich so meisterhaft verbergende Beschränkung auf neun Töne die Aufgabe, also die Maske, die das Stück selber ist, und hinter der sich Nonos emotionales Engagement tarnt; denn am lodernd dramatischen Gestus, von dem die Compositione erfüllt ist, kann kein Zweifel bestehen. Indem sich jedoch die Musik der Maske einer „absoluten“ Musik bedient, transformiert sie zugleich ihr Ausdrucksbedürfnis weg von der linearen, einem Text sich unterwerfenden Erzählweise hin zur autonomen musikalischen Form, die den Gesetzen eigener Dramaturgie folgt.
Manches erinnert an die Urfassung der Polifonica-Monodia-Ritmica aus demselben Jahr: Zu Beginn kein eigentliches Anfangen; eher das glückliche Ergreifen eines Vorbeiwehenden, schon Klingenden, anderswo Entstandenen. Flüchtige und zugleich Utopie-beladene Glockenklänge, die sich allmählich verdichten zu leuchtenden Klanggespinsten, die den kaum greifbaren Impuls der Entstehung ihrer selbst beschwörungsartig festzuhalten suchen. Klänge wie eine stillstehende Erinnerung, unter denen sich eine weit ausschwingende  Monodie erhebt.
- Die jäh zufahrende und zugleich in sich zerfetzte Gestik zu Beginn des 2.Teils wirkt da wie ein Anschlag. Der polyphone Tonfall eines fast A.Bergschen Espressivos kommt nicht zu sich, gefriert in Erstarrung.
Schließlich gerät die Musik in den Strudel einer so panischen Verdichtung, daß der Eintritt des Schlagzeug-Finales, die „Ritmica“ der Compositione der Durchschlagung eines gordischen Knoten gleichkommt: Erlösung und Peripetie in einem, Befreiung sowohl als auch Gericht.

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