Die durchbohrte Zeit

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B.A. Zimmermann: Sinfonie, Urfassung (1951)

„... und kann es nicht als meine Schuld ansehen, daß wir in einer Zeit leben, die vom apokalyptischen Sturm geschüttelt wird.“

Mit diesem Satz rechtfertigt Zimmermann in einem Brief an Hans Rosbaud, den Dirigenten der harsch kritisierten Uraufführung 1952, den ursprünglichen Ausdrucksimpuls seiner „Sinfonie“, wie sie damals noch hieß, und verspricht, sich künftig als „erfahrenerer Instrumentator“ zu zeigen. Unmittelbar anschließend schrieb er das Stück grundlegend um zu der „Sinfonie in einem Satz“, wie wir sie seither kennen.
Die Urfassung verschwand für Jahrzehnte von der Bildfläche. Bei der Revision seiner „Sinfonie“ nimmt Zimmermann einerseits formale Raffungen und Streichungen vor, so wie man sie aus der Geschichte, etwa bei Bruckner, kennt. In einem späteren Werkkommentar spricht er davon, daß „der stark ausgeprägte rhapsodische Charakter ... zugunsten einer mehr geschlossenen Darstellung zurückgedrängt“ wurde. Darüber hinaus führt die neue,  gewachsene Instrumentationskunst dazu, daß ein gleichsam zweites, neues Stück entsteht. Kein einfacher Wechsel im Klangbild, ein Paradigmenwechsel ist es, der sich da vollzieht. Ein Paradigmenwechsel freilich, dem wesentliche Qualitäten der Urfassung zum Opfer fallen. Qualitäten sowohl klanglicher wie eben auch formaler Natur, für die 1952 die Zeit offensichtlich noch nicht reif war.

Heute, in der historischen Rückschau, erweist sich die Eigenständigkeit beider Fassungen; wir sehen die Urfassung mit ganz anderen Augen und erkennen das sowohl Singuläre wie Janusköpfige in ihr: Gerade die vermeintlich alte Maske schaut plötzlich weit nach vorn. Gerade einige vermeintlich redundante Wiederholungen, vermeintlich formauflösende und daher später getilgte Momente vollkommener Versenkung verleihen dem Werk ein Element des Mysteriösen und des Unabgegoltenen, das in der 2. Fassung - bei aller gesteigerten Virtuosität der Form- und Orchesterbehandlung - verloren geht. Es zeigt sich, wie viel Sprengkraft gerade in jenen kompositorischen Strategien steckt, die seinerzeit als unzeitgemäß oder überholt galten. Das Rhapsodische gebiert seine eigene, offene Form, mehr auf der Suche als vorherbestimmt.

Zu dem erwähnten Paradigmenwechsel, den die Sinfonie durch ihre Um-Instrumentation erfährt, zählt nicht nur die Verfeinerung und Ausdifferenzierung des herkömmlichen Instrumentariums sondern vor allem die ersatzlose Streichung der Orgel als Orchesterinstrument; diese hatte bei der Uraufführung für erhebliche Irritation gesorgt. Der klangliche ,Aufprall‘ des sinfonisch ungezügelten Orgelklangs in die herkömmliche Orchesterlandschaft trug sicher zu dem Eindruck einer gewissen Klobigkeit und Hypertrophie des Gesamtklangs bei. Dabei ist es gerade die Orgel, welche in der Urfassung, als gleichsam exterritoriales Element, für Überhöhung und Tiefenschärfe zugleich sorgt. Gerade ihre klangliche ,Uneinnehmbarkeit‘, ihre tatsächliche (oder doch nur scheinbare?) Unvereinbarkeit mit dem übrigen Klangbild öffnet den Raum in ungeahnter Weise, verschafft ihm Luft und Transparenz. Gleich ihr erster Einsatz, unmittelbar zu Beginn, wirkt wie ein Meteoriteneinschlag; wie ein erratischer Block, der, unbehauen und ,kunstfern‘, aus der Zukunft einer anderen Welt hineinragt in dieses frühe Meisterwerk. Letztlich aus der kompositorischen Zukunft der Oper „Die Soldaten“, in der die Orgel sowohl Symbol für Kirche als auch Fanal für Chaos und Untergang ist. Schon hier, 1951, scheint in ihr eine Vorahnung davon aufgehoben, leuchtet aus ihrem Klang bereits etwas vom Geist des Dostojewskyschen „Großinquisitors“ hervor, der die „Ekklesiastische Aktion“ von 1970, Zimmermanns letztes Werk, wesentlich bestimmt.  

Vielleicht war es seinerzeit nicht so sehr ein Zuviel an Ausdruck, das die Menschen verstört hat, als vielmehr ein Übermaß an Zumutung, an Konfrontation mit dem, was Zimmermann, an anderer Stelle, die „musikalische Wirklichkeit“ nannte.

 

B.A.Zimmermann: Konzert für Streichorchester (1948)

Es handelt sich bei diesem Werk nach Zimmermanns eigenen Angaben um die Bearbeitung seines Trios für Violine, Viola und Violoncello aus den Jahren 1942-44. Aus welcher Verfaßtheit heraus das Trio seinerzeit, noch während des Krieges, entstand, ist nicht bekannt. Vergleicht man aber Trio und Konzert, wird deutlich, daß man von einer grundlegenden Neu-Gestaltung oder gar Re-Komposition sprechen muß. Insbesondere die ersten beiden Sätze, Introduktion und Aria, werden erheblich umgebaut; häufige chromatische Abweichungen von der alten, von Neoklassizismus und Quartenharmonik bestimmten Gestalt verändern nicht nur den melodischen Verlauf; es gibt vielfältige neue Kontrapunkte, neue melodische Linien und Felder, vor allem in der Mittellage, die zu einer vielfach völlig neuen Harmonik führen. Auch wenn dies selbstverständlich, wie Zimmermann später an Karl Amadeus Hartmann schrieb, noch ein Werk ist, daß „in eine Periode vor meiner Befassung mit den Prinzipien der Komposition mit 12 Tönen“ gehört, entstehen hier immer wieder Motivgruppen-Zusammenhänge auf engstem Raum, oft nur innerhalb eines Takts, von oftmals 11 oder 9, bisweilen auch 12 Tönen. Zimmermann hält also einerseits seinem, wie er es nannte, „mit Herzblut geschriebenen“ Jugendwerk die Treue; gleichzeitig verändert und verdichtet er den Ausdruck in solcher Weise, daß man versteht, daß diese Umarbeitung 1948 entstand, in einer Zeit der intensiven künstlerischen und geistigen Auseinandersetzungen. Die Eingriffe im „von starken rhythmischen Kräften beherrschten“ Finale fallen vergleichsweise geringer aus; das Bohrende der an Bartók angelehnten Motorik wird zusätzlich angeschärft und erhält in seiner neuen Umgebung eine neue Insistenz. Bei alledem spielt der Perspektivwechsel in die Tiefe des groß besetzten Streicherraums eine nicht unwesentliche Rolle.

Ein frühes Werk des Übergangs also? Das wohl noch nicht; gewiß aber Zeugnis für Zimmermanns Ringen um Individualisierung und Konkretisierung des Ausdrucks; um eine eigene, nur ihm gemäße Antwort auf Schönbergs Fragestellung nach „Stil und Gedanke“.

 

Zimmermann: Giostra Genovese (1962)

Im Italienischen bedeutet „Giostra“ soviel wie Wirbel, Strudel. Im Zusammenhang mit Zimmermann kann man das kaum für einen Zufall halten. Die englische Übersetzung „vortex“ erinnert unmittelbar an Ezra Pound, einen jener Autoren, die Zimmermann wiederholt als literarische ,Kronzeugen‘ für seine Idee der „Kugelgestalt der Zeit“ zitiert hat. In Pounds zwischen Symbolismus und Wissenschaftsgläubigkeit oszillierender Definition beschreibt sich „vortex“ - und der daraus abgeleitete „Vortizismus“ - u.a. als der „Moment größter Energie“, als eine „Ballung verschmolzener Ideen“ und, nicht zuletzt, als gegenwärtiger Ort „aller Vergangenheit, die in die Zukunft hineinzuleben imstande ist.“ Zimmermanns eigener Einführungstext bekräftigt diese Assoziation:„Die alten Tänze, welche zu der Ballettsuite „Giostra Genovese“ zusammengefaßt wurden, stammen von verschiedenen Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts. ... Den Komponisten mag es wenig reizen, eine ... fragwürdige historische Authenzität zu erreichen. Ihn interessiert dieses oder jenes Werk, und in der Art und Weise, wie er es sieht, möchte sein Verhältnis dazu verstanden sein.Das Prinzip der vorliegenden Bearbeitung ist das eines gezielten Anachronismus (unter tunlichster Beibehaltung des Originals in Tonhöhe und Zeitdauer) mit dem vollen Bewußtsein von Gegenwart als Einheit auch von Vergangenheit und Zukunft verstanden. So gesehen ist die “unvorstellbare“ aber nichtsdestoweniger wirksame Vorstellung von Zeit als Kugelgestalt ein Ball in der Hand eines Kindes. So fliegt der Ball zwischen dem Jetzt und Damals hin und her, und viele Anspielungen begleiten das federnden Hin und Zurück: Präsenz und Repräsenz, banchetto musicale gleichzeitig im Heute und Vorgestern.“Treffender - und schöner - kann man den klingenden Anachronismus dieses Stückes kaum beschreiben. „Nur für Gourmets“ heißt es in einem Brief an den SWR. Da seine Erfahrungen mit dem Stück aber eher gezeigt haben, „daß die Methode von Collage und Décollage so, wie ich sie angewendet habe, über die Köpfe hinwegging“, bat Zimmermann 1963 den Verlag, weitere Aufführungen zurückzustellen „bis zur Neufassung des Werkes“ - bei der es dann nicht blieb. Was als einfache Umarbeitung gedacht war, wuchert und wächst sich aus zur „Musique pour les soupers du Roi Ubu“. Das Kind wurde erwachsen; der Ball ist kein Spielzeug mehr. Und aus dem Spiel ist bitterer Ernst geworden.

 

B.A. Zimmermann: Ubu (1966)

Seine „Musique pour les soupers du Ubu“, geschrieben aus Anlaß der Ernennung zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste 1965, nennt Zimmermann mit Recht ein „schwarzes Ballett“; sie ist eins der bis heute schwärzesten, provokantesten und ,unkorrektesten‘ Stücke Neuer Musik. Die Figur des „Ubu“, Alfred Jarrys noch aus vor-dadaistischer, vor-surrealer Zeit stammende, groteske Vision eines kleinbürgerlichen Spießers, der sich zum Diktator aufschwingt - Hanswurst und Massenmörder, Einfaltspinsel und Ungeheuer zugleich - taucht bereits in „Présence“ von 1961 auf. Auch in diesem Trio, ebenso wie in anderen Schlüsselwerken, etwa „Dialoge“, „Monologe“ oder „Photoptosis“, verwendet Zimmermann historische Zitate. Obwohl diese Collagetechnik nur eines unter mehreren Gestaltungsmerkmalen seiner „pluralistischen Kompositionsmethode“ ist, entzündete sich gerade an ihr stets besondere Kritik. Wohl auch als Reaktion darauf treibt er diesen Vorgang nun mit „Ubu“ auf die Spitze und arbeitet ausschließlich mit Zitaten, Eigenzitate freilich eingeschlossen. Er schreibt dazu:  „Es handelt sich dabei um ein „ballet noir“, welches anläßlich eines Festbanketts am Hofe Ubus gespielt wird. Die Akademie des betreffenden Landes, in dem das Stück spielen soll, wird von Ubu zum Bankett zitiert - und zum Schluß in der „Marche du décervellage“ durch die Falltüre befördert: Symbol für den Weg einer freiheitlichen Akademie unter der Regierung eines Usurpators. Zur Verdeutlichung unserer ganz und gar disproportionierten geistigen und kulturellen Situation werden musikalische Collagen heiterster bis härtester Note (in des Wortes Bedeutung) angewandt: ein reines Collagenstück, grundiert von Tänzen des 16. und 17. Jahrhunderts, durchsetzt mit Zitaten älterer und zeitgenössischer Komponisten. Eine Farce, die bieder und scheinbar fröhlich, dick und gefräßig wie Ubu selbst daherkommt: scheinbar ein gewaltiger Ulk, für den jedoch, der dahinter zu hören vermag, ein warnendes Sinngedicht, makaber und komisch zugleich.Dem eigentlichen Ballett wird noch ein Entrée vorangestellt, in welchem die Mitglieder der Berliner Akademie: Präsident, Vizepräsident, der Direktor der Abteilung Musik mit seinen Kollegen durch Zitate musikalisch vorgestellt werden.“Hinzuzufügen bleibt, daß zwei Sätze, „Pile, Cotice et l‘ours“ sowie „Berceuse des petits financiers qui ne peuvent pas  s‘endormir“, aus der Hörspielmusik „Die Mondvögel“ bzw. ihrer späteren Umarbeitung „Un petit rien“ übernommen werden; scheinbar ebenfalls Bearbeitungen von Tänzen, diesmal wohl eher des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich stammen sie aus eigener Feder -  Eigenzitate also, die wie Fremdzitate wirken.  Ein einziges großes Vexierspiel also, nur aus Zitaten bestehend, neben denen der Akademiemitglieder u.a. von Bach, Beethoven, Schubert, Bizet, Berlioz, Wagner, Strawinsky bis zum Anfangsakkord aus Stockhausens Klavierstück IX, der dort allein in den ersten 16 Takten, nur von gelegentlichen Pausen durchsetzt, bereits 283 mal wiederholt wird; Zimmermann treibt auch dies bis zum Äußersten, indem er ihn, freilich in wechselnder Lage und Dichte, im abschließenden „Enthirnungsmarsch“ in atemberaubender Kreuzung mit Wagners „Walkürenritt“ und dem „Gang zum Richtplatz“ aus Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ 631 mal „zitiert“. Die Zitate werden sowohl in der Horizontalen wie, in oft mehrfacher Überlagerung, in die Vertikale hinein collagiert. Ihr innerer Zusammenhalt wird gerade bei gleichzeitiger Übereinanderschichtung nur scheinbar durch rhythmische Analogien oder vergleichbare harmonische Felder gewährleistet. Es gibt in allen eingangs genannten Hauptwerken Zimmermanns, die im Rahmen der „pluralistischen Kompositionsmethode“ Zitate verwenden, eine bemerkenswerte Beobachtung zu machen: kein Zitat scheint je darauf aus, sich einzufügen, zu integrieren. Ein jedes grenzt sich scharf von seinem musikalischen Umfeld ab; keine Angleichungen, keine Emulsion. Aber gerade die Schärfe der Abgrenzung, Nachweis der Unvereinbarkeit eines Zitats, begründet zugleich die schwer erklärbare Empfindung der Notwendigkeit seines Auftretens in gerade diesem Augenblick. Die immer wiederkehrende, frappierende (Hör-)Erfahrung des Umschlags von Überraschung oder auch Irritation in ein Gefühl von Unumgänglichkeit. Im „Ubu“ erschöpft sich die Komposition nicht im geschickten, mosaikartigen Zusammenfügen unterschiedlichster Zitate als musikalische Puzzleteile; der eigentliche kompositorische Augenblick ereignet sich vielmehr im Moment der Kollision, des Aufpralls, benennt kein überraschend elegantes Zusammengehen musikalischer Fragmente, „die alles andere als füreinander komponiert wurden“, sondern vielmehr deren Abstoßung voneinander. Ebendiese Abstoßung freilich ist nicht nur scharf kalkuliert, sondern (voraus)gehört. Jenseits der Idee des allpräsenten Durcheinanderkugelns verschiedener Zeiten und Bewußtseinsebenen gehört zum dramaturgischen Binnenzusammenhang des Werks sicher die Entsprechung des „dies irae“-Zitats zu Beginn aus den „Cantiones sacrae“ des Organisten und Akademiemitglieds J. Ahrens mit dem aus der „Symphonie fantastique“ im Schlußsatz. Ebenso sicher ist es nicht als Zufall anzusehen, daß am Ende des Entrées die beiden Akademiemitglieder Zimmermann und Dallapiccola, die sich gegenseitig schätzten, mit Zitaten aus den „Soldaten“ und des „Prigioniero“ aufeinandertreffen, hier ausnahmsweise nicht im Sinne von Konfrontation und Abstoßung sondern ganz im Gegenteil: als Zeichen des Einverständnisses und klingendes Symbol eines gemeinsamen Protestes.

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