Musik als Höhlengleichnis

L.Nono: Prometeo                                                             SACD col legno 20605

Text: Peter Hirsch

Anläßlich der Neueinstudierung von „Prometeo“ 2003 beim SWR in Freiburg, die dieser SACD-Produktion zu Grunde liegt, war die Erinnerung an die Uraufführung des neuen Prometeo 1985 in Mailand, die ich alternierend mit Claudio Abbado dirigiert habe, wieder präsent. Nono hatte die Partitur, ein Jahr nach der Uraufführung der 1.Fassung in Venedig, grundlegend umgeschrieben,  wesentliche Teile komplett neu komponiert.
Bei meinen Vorproben mit der Sinfonia Varsovia in Warschau, damals noch hinter dem Eisernen Vorhang, erwarteten die Musiker, ihre instrumentale Virtuosität unter Beweis stellen zu können; statt dessen ging es darum, lang ausgehaltene, leise Klänge in Mikrotonabständen von 1/4-, 1/8- und 1/16-Tönen zu spielen; nicht als Färbung oder ungefähre Veränderung im temperierten System sondern als gehörte Harmonik. Hörbar und utopisch zugleich. Jeder Ton weitet sich zum Tonraum, wird plastisch, gleichsam dreidimensional. Selbst die Utopie einer vierten Dimension ist diesen (Ton-)Räumen eingeschrieben, die sich ja durch ihren Verlauf in der Zeit konstituieren. Daneben galt es, eine neue Virtuosität der dynamischen Abstufungen, vor allem im Pianobereich, zu entwickeln. Nonos Differenzierungen zwischen einem und sieben p mögen, vor allem in der Höhe, bisweilen kaum realisierbar sein, spekulativ sind sie nicht! Vielmehr vermessen sie gleichsam den Innenraum der Klänge, an dessen Grenze das „al limite dell‘udibilità“ steht (an der Grenze zur (Un-)Hörbarkeit). Auf dieser Schwelle bedeutet Hören („ascolta!“) ein Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein des Hörenden, das Nono und Cacciari mit dem Moment des dràn in der griechischen Tragödie vergleichen, den tragischen Augenblick der unwiderruflichen Entscheidung - und Verantwortung - des Helden. Dieses Entscheiden, das wie ein „Keil in den Fluß der Zeit dringt“ (Cacciari), spiegelt sich in Nonos „anderen Möglichkeiten des Hörens“, im Hören anderer Möglichkeiten.
In Mailand probten wir mit Nono und allen Beteiligten in Renzo Pianos ‚struttura‘ in Ansaldo in Mailand. Diese hölzerne ‚struttura‘ war ein schiffähnlicher Bau, in dessen Mitte das Publikum saß. In umlaufenden Rängen waren auf unterschiedlichen Niveaus die 4 Orchestergruppen, Soli und Chor verteilt. Ursprünglich für San Lorenzo in Venedig entworfen, stand das imposante Gebilde nun statt in der Enge der Kirche in einer riesigen Fabrikhalle. Mit seinen teilweise außerhalb postierten Lautspechern kam es mir bisweilen vor wie ein trojanisches Pferd des Klangs. Der von Nono gesuchte bewegliche Klang (suono mobile) vagierte zwischen Innen und Außen. Der „coro lontanissimo“ des Prologs und der Isola 1 rückte tatsächlich in unwirkliche Fernen. Zum ersten Mal hörte ich den magischen Umschlag von Extremdynamik in Klang: unerhört und kristallin, luzide noch in den Tiefen der Glasglocken und des Interludio 2, Musik wie auf Gletschers-Spitze, gefährdet und frei, schmerzhaft.
Seine Hervorhebung der Bedeutung des rhythmischen Quasi-Zitats aus Schumanns „Manfred“ offenbarte einiges von seiner Sicht des Prometeischen. Der wie gehetzt Raum greifende, synkopierte Gestus birgt vor allem Auflehnung, darüberhinaus aber auch: wieviel Zweifel und In-Fage-Stellung!
Nonos häufigster Satz: „das muß alles noch viel leiser“ war nicht nur einfach eine extreme dynamische Forderung sondern auch ein Hinweis auf das, was sich wie auf einer Folie hinter dem Klang abbildet. Alles was klingt, ist immer nur Abglanz, ist Schattenriß des Eigentlichen, des Unbekannten, Utopischen.
Musik als Höhlengleichnis.  

Mai 2003; Neueinstudierung beim SWR in Freiburg. Ein neues Hören und die Chance, eine Woche lang im Saal, im Konzerthaus, am Klang zu feilen, den Klang zu suchen und sowohl eine Stereo- wie eine Surround-Aufnahme zu erstellen; jene Technik, die wie für Prometeo erfunden zu sein scheint. Nach der sorgfältigen Einrichtung, Aufführung und Aufnahme im Konzerthaus folgte dann 2004 die vom SWR großzügig ermöglichte Abmischung im Studio. Ein ganz neuartiger, mit herkömmlicher Schneidetechnik nirgends mehr vergleichbarer Vorgang, wie ich ihn so noch nicht erlebt habe - wohlgemerkt bei einem Werk, das wahrhaft den Raum komponiert, wie diesem. Das Kunststück, das es immer wieder im Saal zu vollbringen gilt, ist: neben den ganz unterschiedlichen, durch die live-Elektronik generierten Klangräumen und -architekturen eine ausgewogene, d.h. auch: brüchige Balance zu den live gespielten oder gesungenen und auch nur live gehörten Klängen herzustellen. Erst die Surround-Technik ermöglicht es, dieses subtile Verhältnis zumindest annähernd wiederzugeben. Das genaue Austarieren von 26 Kanälen und ihre minutiöse räumliche und dynamische Verteilung auf 5 Lautsprecher war eine aufwendige, faszinierende, an Sisyphus, den Optimisten, gemahnende Arbeit; immer auf der Suche nach dem ‚wahren‘, dem brüchigen oder auch existentiellen Klang, immer mit dem Ziel, die Wahrheit des Fragmentarischen gerade in der Wiedergabe der umfassenden Räumlichkeit des Werkes zu wahren.

zurück