Vom Ursprung

Zum Phänomen Urfassung
Gustav Mahlers "Totenfeier" und
Bernd Alois Zimmermanns "Sinfonie"-Urfassung

Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken 2017

Gustav Mahlers „Totenfeier“, die Urform des 1. Satzes seiner II.Sinfonie, und Bernd Alois Zimmermanns „Sinfonie in einem Satz“ in ihrer Urfassung: zwei sinfonische Erstlingswerke und erratische Urgesteine zugleich. Es gibt mannigfaltige Parallelen: Mahler war Ende 20, Zimmermann, der zuvor wesentliche Jahre im Krieg verloren hatte, Anfang 30. Beiden Werken ist ein tragischer Unterton zu eigen - Mahler betont ihn schon im Titel -, ohne daß beide auf diesen allein reduzierbar wären. Beide eint der Wunsch, das symphonische Erbe an den jeweiligen historischen Schnittstellen fortzuschreiben. Die „Totenfeier“, 1888 zur Zeit der Vollendung seiner I.Sinfonie geschrieben, ist Mahlers erste ernsthafte Auseinandersetzung mit der traditionsreichen Sonatenform. (Im ersten Satz der I.Sinfonie scheint sie nur schemenhaft durch - nicht zufällig hieß die Sinfonie bei der Uraufführung noch „Sinfonische Dichtung in 2 Teilen“.) Auf dem Titelblatt des Manuskripts findet sich sowohl „Sinfonie in c-moll“, von Mahler später durchgestrichen, darunter „1.Satz“, als auch „Todtenfeier“. Der Plan zu einer Sinfonie bestand also von Anfang an; bis zu seiner Verwirklichung vergingen allerdings 5 Jahre; 5 Jahre, die für Mahler nicht immer leicht gewesen sein können. Im Laufe des Jahres 1889 starben beide Eltern sowie eine Schwester. 1891 bot er das Werk dem Verlag Schott an, der ablehnte. Im selben Jahr spielte er es auf dem Klavier Hans von Bülow vor, der, obwohl ein Förderer des jungen Dirigenten Mahler, vehement ablehnend reagierte. Gleichwohl hielt Mahler dem Satz die Treue. Bei der Umarbeitung 1894, im Zuge der Vollendung der II.Sinfonie, nahm er grundlegende Änderungen an Dynamik und Instrumentation vor, rührte aber, bis auf 2 sehr spürbare aber begrenzte Eingriffe nicht an die musikalische Substanz: eine kühne, großräumige sinfonische Konzeption, die bewußt über Bruckner hinausmöchte und zugleich gewissermaßen prüft, wie weit die hergebrachte sinfonische Form der Vielfalt der neuen Ausdrucksbildungen und ihrer permanenten Metamorphosen standhält. Sei es der „heftige Ansturm“ der Baßfigur zu Beginn, der zum katarakthaften Absturz des ganzen Orchesters mutiert; das vielfach variierte Quartmotiv; überhaupt das Kondukthafte, das zu dramatischen Kulminationen sich steigert, oder das von Mahler „Gesang“ genannte 2.Thema, das unversehens zu einer entrückten, Zeit aufhebenden, Erinnerung in Ahnung verschmelzenden Adagio-Insel inmitten des Allegro-Hauptsatzes wird: in allem ist die der Musik innewohnende Kraft der Metamorphose spürbar. Mahler horcht in die Musik hinein; spürt dem nach, wo sie von sich aus hin möchte. Das Prozeßhafte des Materials bringt die Form in gleichem Maße hervor, wie es von den Säulen und Ankern der Formtradition so gerade noch zusammengehalten wird.  Zimmermanns Anliegen in seiner „Sinfonie in einem Satz“, 1951 vollendet, war es, den symphonischen Gedanken zu verbinden mit der Erkenntnis, „daß die Mehrsätzigkeit in der neuen absoluten Musik, vor allem nach den Erfahrungen durch die Reihenkomposition, als formaler <Kanon> in Frage gestellt ist.“ Er bedient sich des Begriffs der „Keimzelle“, aus der heraus sich das ganze Werk entwickelt, und die dafür sorgt, die Vielfalt der musikalischen Erscheinungen, zu denen auch de utlich hörbare „Erinnerungen“ an ein Scherzo, an einen langsamen Satz gehören, faßbar zu machen. 
Es ist beeindruckend zu sehen, wie beide Komponisten bei der Umarbeitung dieser Werke sich wesentliche Bereiche ihrer verfeinerten Orchestersprache aneignen, für die sie so berühmt geworden sind. Dennoch sind diese Urfassungen nicht etwa bloß skizzenhafte Vorläufer, sondern festgefügte, ausgearbeitet Werke, die die Affinität ihrer Schöpfer zum Orchester mehr als nur erahnen lassen. In dieser Hinsicht gleichen sie einer Art Wetterleuchten zukünftiger Instrumentationskunst. Gerade der Vergleich mit den Umarbeitungen läßt jedoch auch die eruptive Kraft dieser Urfassungen hervortreten, deren besondere, oft düster leuchtende Klanglichkeit, eine zuweilen holzschnitthafte, nicht auf Vermittlung angelegte Instrumentation viel vom ,Gesagt-werden-Müssen‘ eines ursprünglichen Impulses widerspiegeln. Etwas von der utopischen Qualität, die die Werke vor ihrer schriftlichen Fixierung gehabt haben mögen, ist in ihnen aufgehoben; wie in einem Zwischenreich, in dem der Klang noch Imagination ist.
Das Bild des erratischen Blocks: unbehauen, ein Findling aus alter Zeit, verirrt in die unsrige. Vielleicht ist das „Erratische“, „Verirrte“ daran der Sehschlitz in eine ursprüngliche Vollkommenheit; vielleicht gewährt gerade das Unbehauene, Unraffinierte die Möglichkeit eines Einblicks in die Nacht der Möglichkeiten, aus der heraus schließlich eine nur in die Taghelle des ,Zur-Welt-Kommens‘ hinüberwechselt. Dieses Nicht-Verfeinerte steht weniger für ein Grobes als vielmehr eine Art skulpturales Hören; so als könne man um die Musik gleichsam herumgehen; sehen oder besser: hören, wie der Autor die verschiedenen Aspekte und oft divergierenden musikalischen Phänomene in einer großen, spekulativen Simultaneität vor uns ausbreitet. Nur ein Beispiel von vielen: In der „Totenfeier“ findet sich auf dem Höhepunkt der Hauptthemengruppe ein über 6 Oktaven gespannter Orgelpunkt im 2-fachen Fortissimo. Da er dazu angetan ist, die musikalische Hauptsache, das übrige kontrapunktische Gewebe vollständig zu übertönen, redigiert Mahler diese Passage in der II.Sinfonie grundlegend, schafft Luft, fügt zahlreiche fortepiani und diminuendi hinzu, differenziert den Orchestersatz vielfältig aus. Allein: auch wenn der Orgelpunkt wahrnehmbar bleibt: viel von der ursprünglichen Komplexität, der Bedrohung und dem Gefährdet-Sein dieser Passage geht dabei verloren.
Der französische Philosoph Maurice Blanchot hat über die Sprache der Literatur gesagt, sie sei „die Suche nach dem Augenblick, der ihr vorausgeht.“ Beide diese Urfassungen sind durchzogen von dieser Suche nach dem vorausgegangenen Augenblick.


Neben allen Gemeinsamkeiten gibt es freilich auch Unterschiede; der wesentliche: bei der Umarbeitung der „Totenfeier“ bleibt der formale Ablauf, wie erwähnt, weitgehend erhalten. Die gewisse Sonderstellung des Satzes als Solitär unterstreicht Mahler noch durch die Anweisung, ihn durch eine Pause von „mindestens“ 5 Minuten vom Fortgang der Sinfonie abzusetzen. Ganz anders Bernd Alois Zimmermann: nach dem Mißerfolg der Uraufführung 1952 zog er die „Sinfonie“ zurück und unterzog sie einer radikalen Revision. Zimmermann ändert den Verlauf tiefgreifend; insgesamt fällt knapp ein Viertel des Stücks dem Rotstift zum Opfer. Neben einer Anzahl kleinerer Striche entfällt, aus der Perspektive der Urfassung gesehen, vor allem das Herzstück:  eine lange Passage, die man von Gestus und <Auftritt> her unweigerlich als Hauptthemengruppe empfindet und die sich in der Mitte des Werks großflächig ausbreitet. Vom Ambitus sowie der kontrapunktischen Fülle der Ereignisse her gemahnt sie bereits an die Schichtungen und „Wirbel“ des späteren, „pluralistischen“ Zimmermann. Es ist ein Dreinfahren und eine Auf-Forderung zur Überforderung, wie man es sich nur wünschen kann. Sodann, ebenfalls später gestrichen, die Fallhöhe: Absturz in Regionen der völligen Versenkung, der Zeitaufhebung, in denen etwas vom Unabgegoltenen dieses Stückes aufgehoben ist. Auch wenn Zimmermann später über die Revision schreibt, „daß der stark ausgeprägte rhapsodische Charakter ... zugunsten einer mehr geschlossenen Darstellung zurückgedrängt“ wurde, regiert hier nicht etwa Formlosigkeit. Die Gleichzeitigkeit von Ausdruckswillen einerseits und konstruktiver Strenge und geistiger Durchdringung andererseits, die ihn bis zum Schluß auszeichnet, ist hier bereits vorgezeichnet. Das Rhapsodische gebiert seine eigene, offene Form, mehr auf der Suche (nach sich selbst) als vorherbestimmt.
Aber auch was bleibt, bleibt nicht, wie es war. In einem Brief an Rosbaud, den Dirigenten der Uraufführung, verspricht Zimmermann, sich künftig als „erfahrenerer Instrumentator“ zu zeigen. Und tatsächlich bringt die Raffinesse des „erfahreneren Instrumentators“, als der er sich bei der Revision erweist, ein gleichsam zweites, neues Stück hervor. Mannigfache Registerwechsel und Zusätze, Aufstockung des Bläserapparats um fast die Hälfte. Kein einfacher ,Kostümwechsel‘, ein Paradigmenwechsel ist es, der sich da vollzieht. Ein Paradigmenwechsel freilich, dem wesentliche Qualitäten der Urfassung zum Opfer fallen; nicht zuletzt die Erfahrung des „apokalyptischen Sturms“, von dem Zimmermann im selben Brief schreibt. In erster Linie betrifft das die Orgel, die in der 2. Fassung ersatzlos gestrichen und auf die traditionellen Orchesterinstrumente ,uminstrumentiert‘ wird. Die Orgel als Orchesterinstrument: Was geschieht hier? Eine Art Quantensprung in die Zukunft. Zimmermann setzt den Klang der Orgel ein wie ein Zitat. Der klangliche ,Aufprall‘ des symphonisch ungezügelten Orgelklangs in die herkömmliche Orchesterlandschaft trug sicher zur Irritation des Publikums bei der Uraufführung bei. Doch gehört es zum Geheimnis dieser Setzung, daß sie im selben Moment als ebenso überraschend wie zwingend empfunden wird.  Die - scheinbare - Unvereinbarkeit der Orgel mit dem übrigen Klangbild irritiert zunächst, um im nächsten Augenblick als vollkommen notwendig zu erscheinen. Gleich ihr erster Eintritt zu Beginn wirkt wie ein Meteoriteneinschlag, verleiht ihr den Charakter eines Fanals aus der Zukunft; der Zukunft der „Soldaten“, in denen ihr Klang sowohl für Kirche wie für Chaos und Untergang steht.

So haftet dieser Urfassung etwas Janusköpfiges an: gerade ihre vermeintlich altmodische Maske schaut plötzlich weit nach vorn. Weiter vielleicht als sich der Komponist selber bewußt war. Das Werk erscheint aktueller denn je. Man spürt die Katastrophe ohne zu wissen, ob sie dem Werk vorausgeht oder noch kommen wird.Eine Rohrpost aus der Vergangenheit.

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