Zwei Mystiker

B.A.Zimmermann: Canto di speranza
Bruckner: Sinfonie Nr. II

Mainz 2012

Text: Peter Hirsch

Anton Bruckner und Bernd Alois Zimmermann - zwei Mystiker und Ekstatiker zugleich, deren Werke wie erratische Blöcke in der Landschaft stehen. Charakteristisch und beiden gemeinsam ist, daß sie aus eher introvertierter oder gar (scheinbar) weltabgewandter Position heraus die Welt betrachten und kompositorisch vermessen. - dabei das Rauschhafte mit großer, seltener formaler Meisterschaft verbindend.
B.A.Zimmermanns „Canto di speranza“ und Bruckners II.Symphonie - zwei frühe Meisterwerke; Meisterwerke der Frühe auf der Suche nach dem, was den jeweils speziellen Tonfall ihrer Schöpfer ausmacht, ausmachen wird. Auf der Suche und fündig zugleich. Charakteristisch für beide sind Melodiebildungen, die sowohl Halbtönigkeit wie weit gespannte Intervalle bevorzugen. Beiden gemeinsam ist ein gewisser rhapsodischer oder improvisatorischer Zug, bei freilich denkbar unterschiedlichen formalen Lösungsansätzen. Eine weitere Gemeinsamkeit spiegelt sich in den Entstehungsgeschichten beider Werke. Beide haben, jeweils im Abstand von 4-5 Jahren, Umarbeitungen erfahren.  
Bernd Alois Zimmermanns Canto di speranza von 1957 ist die Neufassung des „Konzerts für Violoncello und kleines Orchester in einem Satz“ von 1953. Ähnlich wie so oft auch bei Bruckner bedeutet dieses Umarbeiten sowohl Reaktion auf Mißerfolg und Kritik  als auch Präzisierung der eigenen Gedanken beziehungsweise Schärfung und Verdichtung des dem Material innewohnenden Potenzials.  In diesem Zusammenhang verweist Zimmermann hier zum ersten Mal auf Ezra Pounds „Pisaner Cantos“, die ihn bis ins „Requiem“ hinein beschäftigen werden. Aus seinen Werkkommentaren: „Anregung zu der Komposition des „Canto di speranza“ gaben die „Pisan Cantos“ von Ezra Pound. Sie liegen der Komposition zugrunde, jedoch keinesfalls in dem Sinne, daß sie wörtlich unterlegt seien. Speranza, die Hoffnung, die in so unvergleichlicher Weise aus den Pisan Cantos hervorleuchtet - Canti di prigionia wie Canti di speranza gleichermaßen - ist der gewissermaßen innere Cantus firmus der Kantate für Violoncello und kleines Orchester.“ „Das Cello erschien mir immer als das Instrument, welches am ehesten der „Vox humana“ nahekommt, am ehesten geeignet also zu singen. Damit ergab sich ein neuer Begriff von „Kantilene“, von Instrumentalkantate. ... Die Kantate, in deren Orchester die Violinen völlig fehlen, entfernt sich, wie schon durch die Werkbezeichnung angedeutet wird, bewußt vom Typ des Solistenkonzerts. Es geht hier nicht um den verführerischen Glanz des Virtuosen: das rein Monologische und Meditierende steht im Vordergrund; die Farbtöne sind eher dunkel gehalten, die Strukturverläufe bei aller angestrebten Flexibilität der Form strenger als in meinen übrigen Arbeiten. Der „Canto di speranza“ ist eher ein Werk der Stille als der großen Ausbrüche; das Werk will nicht überreden, hinreißen, sondern behutsam die kleine Flamme der Hoffnung nähren, die einzig Licht zu spenden vermag dem, der sich ihr anvertraut.“  Daß die Erwähnung: „Canti di prigionia“ ebenso auf Pounds biographische Situation (an die sich einige freilich nicht unerhebliche Fragezeichen knüpfen) wie auch auf ein Werk von Zimmermanns Freund Luigi Dallapiccola hindeutet, erscheint mir zumindest erwähnenswert. Immer wieder sprach er von einem „nachdenklichen und ins Metaphysische gerichteten Werk“. „Sehr viel an Beziehung hinter den Tönen“ heißt es in einem Brief. Es ist das Geheimnis Zimmermanns, dieses „Hinter den Tönen“ musikalisch formulieren zu können. Sein Ausdruckswille war stets auf eine Musik gerichtet, die aufgeladen ist; nicht in dem Sinne, daß sie für etwas stehen, etwas illustrieren solle. Die Bedeutungshaftigkeit, die sie auszeichnet, ist den Klängen selbst eingeschrieben; die Klangbilder stehen nur für sich selbst, sind selber ganz Signifikanz. So sind die subtil ausdifferenzierten Schlagzeug-, Klavier- und pizzicato-Klänge des Beginns nicht bloße Untermalung oder Begleitung sondern Öffnung eines Erinnerungs- und Geschichtsraumes, in dem der Canto, streng gefaßt und quasi improvisierend zugleich, sich entfaltet; „monologisch meditierend“ zunächst, alsbald aber das ganze Orchester immer wieder in einen Sog ekstatischer Verdichtung ziehend. Man denkt unwillkürlich an Ezra Pounds Begriff des ,Strudels‘ oder ,Wirbels‘ („vortex“), den er u.a. als Ort aller Vergangenheit, die in die Zukunft hineinzuleben imstande ist, beschrieben hat. Das Werk ist einsätzig; die Arkadenform erscheint weniger als Konzeption denn als Ergebnis von Prozeßhaftigkeit. „Rhapsodisch offene und polyphon geschlossene Teile“ schließen sich konzentrisch um ein kurzes Orchesterzwischenspiel, das als Drehpunkt des Werkes dient. Die Verbindung von neuartiger Kantilene mit ebendenselben, seriellen Mitteln, die im Darmstadt der 50er Jahre zu ganz anderen, <punktuellen> Ergebnissen und ästhetischen Alleingültigkeitsansprüchen geführt haben, erklärt die höchst zwiespältige Reaktion, die das Stück 1958 hervorrief.   
Zimmermann jedoch lag viel an diesem Werk, wie Siegfried Palm, der Solist der Uraufführung, mir erzählt hat, der mit Zimmermann ab dem „Canto“ eng befreundet war. Zwar zählt es noch nicht zu seinen „pluralistischen“ Werken - jenen, die sich ausdrücklich mit der sogenannten „Kugelgestalt der Zeit“ auseinandersetzen; dennoch leuchtet aus ihm bereits etwas von dem hervor, was Pound 1910 in „The Spirit of Romance“ formuliert hat, und woraus Zimmermann in seinem Aufsatz „Intervall und Zeit“ aus dem Entstehungsjahr des Canto, 1957, zitiert: „...Alle Zeitalter sind gleichzeitig... Die Zukunft regt sich schon im Geiste der Wenigen. Dies trifft vor allem für die Literatur zu; in ihr ist die wirkliche Zeit unabhängig von der scheinbaren; in ihr sind viele Tote Zeitgenossen unserer Enkel, während viele unserer Zeitgenossen schon in Abrahams Schoß versammelt sind.“ Bekanntlich war es Zimmermann, der daraus, für die Musik, die radikalsten Folgerungen gezogen hat. „Canto di speranza“ steht am Beginn dieser Entwicklung; daß dieser Beginn im Geiste der Hoffnung steht, die Zimmermann immer mehr abhanden kommen sollte, macht das Werk besonders kostbar.

Bruckners II.Symphonie entstand in den Jahre 1871-72. Auch wenn sie auch häufig noch als Frühwerk gilt, weist sie doch, anders als ihre beiden Vorgängerinnen, die Erste und die sogenannte „Nullte“,  bereits alle typischen Merkmale der Brucknerschen Symphonien-Architektur auf; zugleich durchweht sie ein improvisatorischer, auch: suchender Geist, der die Form oftmals nicht als vorgegeben und festgefügt begreift, sondern als klingendes Ergebnis eben dieses Suchens und Wanderns erscheinen läßt. Es überrascht nicht, daß Bruckner zu der Zeit große Erfolge nicht nur als Orgelinterpret fremder Werke sondern ausdrücklich als Improvisator an der Orgel feierte, auch im Ausland, in Frankreich und England, wo er die Komposition der Zweiten begann.
Tastend, wie auf der Suche nach sich selbst, entwickelt sich aus immer neuen Halbtonumspielungen heraus allmählich das groß angelegte Hauptthema des ersten Satzes. Es ähnelt einer großen, freien Rede oder Improvisation, die sich schließlich zu weit ausgreifenden Gesten aufschwingt; frei und noch ungebunden vom strengen System der meist geradzahligen Perioden, wie wir sie vom späteren Bruckner her kennen. Etwas wie ein ,Zug ins Freie‘ wohnt diesem Beginn inne, eine Art Freiheitsdrang, der die Form, derer er bedarf, selbst generiert und solcherart Be- und Entgrenzung in eins setzt. Das anfängliche Halbtonmotiv entpuppt sich als Keimzelle, die die ganze Symphonie in immer neuer Gestalt durchzieht; so auf dem Höhepunkt des langsamen Satzes oder als Begleitfigur zu Beginn des Finales. Bevor es in der Durchführung dramatisch zugespitzt wird, erscheint es, nach Dur gewendet, improvisatorisch fortgesponnen zu einem geradezu sommernachtstraumartigen Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Horn und Viola. Und natürlich baut sich auch die Koda auf diesem Motiv aus zwei Halbtönen auf.  
Zeigten die langsamen Sätze der beiden bereits erwähnten Vorgänger-Symphonien Bruckner noch wie auf der Suche nach dem eigenen Tonfall, so scheint er sich im langsamen Satz („Feierlich, etwas bewegt“) der II.Symphonie als Adagio-Komponist geradezu neu zu erfinden. Der lange Atem, der große, nur ihm eigentümliche „feierlich bewegte“ Ton: hier sind sie vom ersten Takt an präsent. Alles Improvisatorische geht vollständig auf in die Kunst des Variierens. Ein Seitenmotiv des 5. Takts wird wenig später zum ausgedehnten Nachsatz erweitert, der unversehens den Charakter eines ,Hauptgedankens‘ annimmt. Die Reprisen von Haupt- und Seitenthema werden durchführungsartig entwickelt, ohne je die tradierte, einfache Liedform zu tangieren. Diese elementare und eher statische Form erscheint jedoch nicht als Fessel oder Begrenzung. Im Gegenteil: Durch Bruckners weit gespannte Bögen befreit die Musik sich in der festen, vorgefundenen Form gleichsam zu sich selbst. Obwohl dieser Satz in seiner Ausdehnung nicht ganz an die letzten Adagios heranreicht, so gibt er doch schon ein Vorgefühl auf die jenen eingeschriebene, spezielle Architektur- und Zeitwahrnehmung, welche das Verrinnen der eigenen Lebenszeit mit zum Thema hat. - Zwischen der letzten Reprise des Hauptteils, deren großartige kontrapunktische und harmonische Verdichtung ganz unverkennbar auf die letzten Symphonien vorausweist, und der im reinen Naturlaut verklingenden Koda ist, gleichsam unbemerkt, ein 4-taktiges Zitat aus dem „Benedictus“ der f-moll-Messe eingefügt.

Das Scherzo ist einer jener Sätze, in denen der „junge“ Symphoniker Bruckner - der hier immerhin schon Ende 40 war... - von Anfang an mit schlagender Souveränität den Vorwärtsdrang Beethovenscher Scherzi verknüpft mit dem Gestus des Kreisenden und damit auch: Nicht-von-der-Stelle-Kommens eines typischen Ländlers. Die Halbtönigkeit, die dem akkordisch geprägten, alpinen Ländler eigentlich fern liegt, führt hier nicht ins Offene; vielmehr verstärkt sie den Eindruck des Kreisenden, der Wiederholung des Immergleichen; beispielsweise im Trio, dessen harmonische Rückungen immer wieder spiegelkabinettartig Schwerpunkte und Orientierung verschleiern. Und auch die zunächst vorwärts stürmende Koda bekommt schließlich etwas von der Vergeblichkeit eines Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand.
In freier, rhapsodischer Weise beginnt das Finale; fast möchte man sagen: odysseen-gleich; jeder Weg ist Umweg und Thema zugleich. 32 Takte braucht es bis zum scharf umrissenen Hauptthema, dessen vorwärtsstürmende Energie eindeutig das Vorbild Beethovens verrät. Ganz anders das Seitenthema: kokonartig in sich und seine 4-taktige Grundstruktur versponnen löst es schon hier, wie später häufig bei Bruckner, die Trennung von Haupt- und Nebenstimmen, Thema und Begleitungen auf in allumfassenden, lyrischen Kontrapunkt. Ein fast organisches Wuchern entsteht aus dem Ineinander-Schlingen und Sich-ineinander-Verlieren aller schließlich unterschiedlos wichtigen Stimmen. Bruckners Improvisationsgestus, bislang auf Expansion und Entwicklung ausgerichtet: hier umkreist er <kugelgestaltartig>, wenn auch auf immer neuen Bahnen, den immergleichen Gegenstand. Eine komponierte Vision angehaltener Zeit - oder auch: ein komponiertes „Zum-Augenblicke-Sagen: Verweile doch“. Auch die Durchführung ist eher introspektiv als ausbrechend; mehr an Kontemplation als an Konfliktaustragung interessiert. Schon das ausgedehnte Pianissimo-Zitat aus dem „Kyrie“ der f-moll-Messe am Eingang signalisiert das Terrain, auf welchem sie ausgetragen wird. Die gesamte 2. Hälfte versenkt sich auschließlich in das lyrische Seitenthema, dessen erster Takt, gespiegelt, die Grundlage eines 40-taktigen, misteriosen Basso ostinato und seiner großartigen Steigerung in die Reprise hinein bildet. Auch die Koda zitiert dieses Seitenthema ebenso wie nochmals das Hauptmotiv des ersten Satzes: zeichenhaft, an exponierter Stelle, von anführungsstrichartigen Pausen umrahmt. Indem die Form sich hier aus improvisatorischer Freiheit selbst gebiert, wird sie zum Vorbild späterer Finali Bruckners und verweist zugleich auf das Beispiel von Beethovens Neunter Symphonie.

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