Um seiner selbst willen!
06.06.2023
Münchner Abendzeitung 21./22. I. 2023
Dirigent Peter Hirsch legt in einem kleinen Büchlein „Lücken im Ablauf“ Reflexionen über den „Einbruch des Unerwarteten in der Kunst“ vor.
Ein kleines Bändchen von 54 Seiten kann mehr Gedanken enthalten als so mancher Schmöker. Auf Seite 11 von „Lücken im Ablauf“ liest man einen Satz, der gleichermaßen Einsichten schafft wie zum Nachdenken anregt: „Kein Werk dient“ einer Sache oder einer Person, schreibt Peter Hirsch. Gemeint ist das Kunstwerk. Und es dient „auch nicht der Selbstverwirklichung oder -findung des Autors“. Das ist philosophisch grundsätzlich, aber deshalb nicht weniger verständlich: Ein Gedicht, ein Gemälde, eine Symphonie „verwirklicht ausschließlich sich selbst.“ Hätte das Kunstwerk einen Zweck, wäre es ein bloßer Gebrauchsgegenstand. Nichts gegen nützliche Dinge. Aber ein Einkaufszettel ist eben kein Gedicht, die Illustration einer Reklame kein Stilleben, eine Filmmusik, die im Kino Spannung erzeugen oder die Liebesszene untermalen soll, gehört nicht ins Konzert.
Der Gedanke der Zweckfreiheit der Kunst ist nicht neu, aber deshalb nicht weniger wahr. Das Interessante an Peter Hirschs kleiner Sammlung „freier Impromptus und zufälliger Stolpersteine“ ist, dass er aus diesem Gedanken weitreichende Schlüsse zieht, die nicht unmittelbar auf der Hand liegen. Wenn ein Werk nicht der Selbstfindung oder Selbstverwirklichung des Autors dient, dann ist ein Roman eben nicht ausschließlich als Schlüsselroman zu lesen, wie es im Feuilleton oft geschieht: Es zieht die Kunst, wie Hirsch es ausdrückt, „in unseren Alltag hinab“, wenn man etwa nur versucht, die realen Personen zum identifizieren, die hinter literarischen Figuren stecken. Oder ein Portrait darauf reduziert, den Dargestellten zu benennen.
Das heißt aber auch, dass ein Komponist wie Gustav Mahler sich eben gerade nicht selbst in seinen Symphonien ausdrückt. Wenn er in der vierten Symphonie G-Dur Kinderlieder zitiert, Schlittenschellen klingeln lässt oder eine Fidel zum Tanz aufspielen, hält er nicht Erinnerungen an eine alte und vielleicht glücklichere Zeit fest, sondern komponiert, wie Hirsch sagt, „mögliche Bilder einer möglichen Vergangenheit“.
Peter Hirsch ist ein hochgebildeter Autor, der den Dichter Giacomo Leopardi und den Philosophen Walter Benjamin zitiert und diskutiert. Von Haus aus ist er, Jahrgang 1956, ein international gefragter Dirigent, der etwa mit dem WDR Sinfonieorchester Köln Werke von Bernd Alois Zimmermann und dem Deutschen Symphonie- Orchester Berlin Luigi Nono eingespielt hat. Die Referenzaufnahme von dessen Hauptwerk „Prometeo“ stammt von ihm. Über Nono, mit dem er eng zusammengearbeitet hat, schreibt er auch in diesem kleinen Bändchen, ebenso über Mozarts „Figaro“, Schönbergs Brahms-Bild und - in einem verblüffenden kleinen Essay - über Beethovens Fingerkuppen.
Mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz hat Peter Hirsch kürzlich Nonos Schönberg-Variationen und die Große Symphonie von Franz Schubert aufgeführt. Wie genau der Dirigent die Partitur dieses oft gespielten Werkes studiert hat, wie tief er dessen Wesen erfasst hat, hört man auf einem Vorab-Mitschnitt des Konzertes, der hoffentlich bald auch auf CD veröffentlicht wird. In der Zwischenzeit kann man die wertvollen Erkenntnisse nachlesen, die ein Dirigent hat, der auch über das nachdenkt, was man tut. Man kommt bei der Lektüre aus dem Kopfnicken kaum heraus.
Michael Bastian Weiß